Dienstag, 12. März 2013
Wie ein Student zum Gotteskrieger wird
(Kabul, kurz nach dem Einmarsch der russischen Soldaten)

Alles begann mit einem Zufall. Der Bus, mit dem ich von der Uni nach Hause fuhr, wurde plötzlich langsam und kam dann geräuschlos zum Stehen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen den Motor wieder zu starten, stieg der Fahrer aus und ging hinter das Fahrzeug. Man hörte, wie er an dem Motor rüttelte. Nach einigen Minuten stieg er wieder ein, setzte sich hinters Steuer, steckte den Schlüssel ein und versuchte es noch mal. Vergeblich! Der Anlasser machte seinen Job, aber der Motor streikte. Er stieg wieder aus, ging nach hinten, kam wieder herein. Nach mehrmaliger Wiederholung dieses Vorgangs kündigte er an, nicht weiter fahren zu können.
Wir Fahrgäste stiegen aus. Auf den nächsten Bus wollte ich nicht warten, und machte mich zu Fuß auf den Weg. Das machte mir nichts aus. Ich lief gerne und hätte es auch an diesem Tag getan, wenn es nicht zu regnen angefangen hätte. Am frühen Vormittag war es noch sonnig. Später waren nur ein paar kleinen Wolken zu sehen. Aus den kleinen Wolken wurden große Wolkenfelder, die sich langsam zusammenschlossen. Bald bedeckten sie den Himmel und ließen die Sonne verschwinden. Und jetzt schüttete es wie aus Eimern.
Der heftige Regen, dessen Tropfen sich wie Hagelkörner auf meinem Kopf anfühlten, zwang mich eine Pause einzulegen. Ich ging in eine kleine Teestube hinein, die auf meinem Weg lag. Vom Regen durchnässt setzte ich mich in eine Ecke. Ein kleiner Laden war das. Darin standen vier Tische mit je zwei Holzbänken auf beiden Seiten. Außer mir und dem Kellner, der offensichtlich auch der Besitzer des Ladens war, saß noch ein Gast auf einer der Bänke. Ein Kerl, mittleren Alters, mit einem dünnen Bart, ziemlich kräftig und dunkel gekleidet. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Kanne dampfender Tee mit einer halbvollen Tasse. Ich bestellte auch einen Tee.
Nachdem der Wirt mir meinen Tee serviert hatte, ging er hinter die Theke und setzte seine Unterhaltung, die meinetwegen unterbrochen worden war, mit seinem bärtigen Gast fort. Er, der Wirt, redete weniger. Ab und zu stellte er Fragen. Manchmal gab er kurze Kommentare ab. Die meiste Zeit redete der Gast. Er schien von der Politik Ahnung zu haben. Ihrer Unterhaltung nach zu beurteilen, waren die beiden Freunde. Oder zumindest kannten sie einander gut. Das Thema ihres Gespräches war der Aufstand gegen die Regierung im Osten des Landes, was mich überhaupt nicht interessierte.
„Sie hatten sogar den Regierungssitz in der Provinzhauptstadt für kurze Zeit okkupiert. Erst mit dem Vorrücken der russischen Soldaten hatten sie sich zurückgezogen“, sagte der Gast.
„Echt?“, erwiderte der Wirt erstaunt.
„Ja. Sie hatten sogar einige Beamte als Geisel genommen“, erklärte der Gast. „Den Provinzgouverneur und seine Familie haben sie ermordet und die militärischen Einrichtungen in Brand gesetzt“, fügte er hinzu. Und während er sprach, warf er hin und wieder mir Blicke zu, als wäre ich auch ein Gesprächsteilnehmer.
Für mich war all das uninteressant. Dass es irgendwo im Osten Konflikte gab, war mir gleichgültig. Ich lebte in der Hauptstadt Kabul, wo Frieden herrschte. Hier und dort sah man die sowjetischen Soldaten und Ihre Panzer. Aber sie hatten mit uns nichts zu tun. Oder genauer gesagt, mit mir, einem Studenten, hatten sie nichts zu tun.
„Hier hat auch die Regierung nicht die Lage unter Kontrolle“, sagte der Gast und meinte die Hauptstadt Kabul. „Jenseits der Stadtgrenze haben sie keine Macht mehr.“
Was erzählt dieser Kerl, dachte ich. Wer hat denn die Macht dort wenn nicht die Regierung?
Trotzdem nickte ich immer wenn der bärtige Mann mir zu blickte, um damit meine Zustimmung gezeigt zu haben. Wenngleich es aus Höflichkeit geschah.
Ich sah aus dem Fenster hinaus. Es regnete noch.
„Ihr Ende ist nah“, sagte er.
Schön für dich, dachte ich.
„Das ist nur eine Sache von Tagen und Monaten.“
Dann zähle die Tage, wenn du überhaupt zählen kannst, dachte ich.
Er redete und redete.
Und es regnete immer noch. Sonst wäre ich schon längst weg gewesen.
„Vor Kurzem haben die Russen drei Frauen vergewaltigt.“
Dieser Satz schoss wie ein Pfeil durch meinen Kopf. Ich dachte, ich hätte es nicht richtig gehört.
Ich wandte mich ihm zu. „Afghanische Frauen haben sie vergewaltigt?“, fragte ich mit einer Stimme, die mir selbst fremd klang.
„Ja. Und dann haben sie sie ermordet und das Haus, in dem all das geschah, in Brand gesetzt.“
Mein Körper wurde warm. Ich fühlte es. Meine Finger fingen an zu zittern. Die Wut kam in mir hoch. Kein Wunder, wenn man einem zwanzigjährigen jungen Mann so was erzählt!
Wie konnten sie sich so was erlauben? Dass sie in Afghanistan waren, machte mir nichts aus; dass sie aber die Frauen vergewaltigt hatten, war damit die Grenze überschritten.
„Die Hurensöhne!“
Für einige Augenblicke konnte ich meine Umgebung nicht wahrnehmen. Als lebte ich in einer parallelen Welt. In einer Welt, in der sich alles in Zeitlupe bewegte, und man von Weitem leise aber kraftvolle Stimmen hörte:
„Es ist unsere Aufgabe, unser Land, unsere Religion und unsere Mütter und Schwestern zu schützen. Unsere Religion verpflichtet uns, zur Waffe zu greifen und diese Ungläubigen aus unserem Land jagen.“
Minutenlang saß ich da, ohne etwas zu sagen. Ich schaute nur zu, während der bärtige Mann zu mir sprach. Teilweise verstand ich ihn gar nicht. Ich schwebte wütend in meinen Gedanken. Diese Bastarde! …
*
„Und die Regierung sieht zu und tut nichts?“, fragte ich, nach dem ich geistlich wieder in der realen Welt gelandet war.
„Das ist keine Regierung“, antwortete er. „Das sind ein paar Kommunisten, die sich ohne Hilfe der Russen nicht an der Macht halten können.“
Das Blut kochte mir in den Adern. Ich war nach wie vor wütend. Am liebsten wollte ich eine Waffe besorgen und jeden russischen Soldaten und ihre afghanischen Helfer umlegen.
Lauter Aufregung führte ich meine Tasse mehrmals zum Mund, um ein Schluck zu trinken, obwohl sie schon längst leer war. In meiner Kanne gab es auch keinen Tee mehr. Der Wirt bemerkte es und brachte mir eine Neue.
„Nur ein organisierter und gemeinsamer Widerstand hilft uns, sie aus unserem Land zu vertreiben“, sagte er.
Als hätte er meine Gedanken lesen können.
Er erzählte mir von den Erfolgen der Mudschaheddin, der Gotteskrieger, in den Provinzen, und dass es in Kabul auch Gruppierungen gebe, die ihren Kampf erfolgreich gegen die Kommunisten und deren ungläubige Helfer führten. Wir unterhielten uns bis zum späten Nachmittag. Eine Uhr, die direkt über der Theke an der Wand angebracht war, zeigte 17:00 Uhr. Ich schaute zum Fenster hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen.
„Es ist spät geworden, ich muss jetzt nach Hause“, sagte ich und stand ich auf.
„Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen“, sagte der Mann und stand ebenfalls auf. „Übrigens, mein Name ist Mahmoud“.
Mit einem Handschlag, und nachdem ich mich auch vorgestellt hatte, verabschiedete ich mich von ihm und ging zur Theke um die Rechnung zu bezahlen.
„Steck dein Geld wieder ein!“, weigerte sich der Kellner, das Geld anzunehmen. Ich beharrte darauf, aber es war zwecklos. Dankend verabschiedete ich mich von ihm und trat zur Tür.
„Besuche uns ab und zu, wenn du Zeit hast“, rief Mahmoud mir hinterher.
Ich drehte mich um. "Auf jeden Fall", sagte ich. Und das tat ich auch.

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